„Jeder dumme Junge kann einen Käfer zertreten, aber alle Professoren der Welt können keinen herstellen.“ – so lautet ein chinesisches Sprichwort. Wer etwas von Gott erfahren möchte, muss sich dem Geringen zuwenden. Nicht das Große, die gewaltige Idee, sondern der kleine Käfer am Wegesrand erinnert mich an den Schöpfer.
Unsere Lebensaufgabe ist, im Menschen das Antlitz Gottes suchen. Der Monatsspruch gibt die Blickrichtung der Lebensaufgabe an. Dieses Bibelwort ist wie ein Hammerschlag. Bin ich Gott auf der Spur?
Christus sagt in seinem Gleichnis vom Weltgericht:
„Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen. ...
Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“
Matthäus 25, 35-40
Welche Spur hinterläßt mein Leben? Christus beschreibt diese Spur eindeutig. Dem Kranken sich zuwenden, den Hungrigen sättigen, den Gefangenen besuchen. Allen Spuren gemeinsam ist die Zuwendung zum anderen Menschen. Und das Überraschende an dem Gleichnis Jesu ist: Sie haben zwar Hungrige gesehen und gesättigt, aber sie haben in ihnen nicht Christus erkannt. Sie haben nicht mit Absicht, nicht mit Berechnung gehandelt.
Zum Glück gibt es auch heute viele Menschen, die ohne Aufhebens helfen und da sind, wenn sie gebraucht werden. Und oft wissen sie nicht, dass sie nach dem Maßstab leben: „Wer sich des Armen erbarmt, der ehrt Gott.“
Damit ist die quälende Frage nach dem Lebenssinn beantwortet: Barmherzigkeit zu leben und zu sehen, dass wir Menschen in Zusammenhängen leben, nicht für uns sind - und das über Grenzen von Nationalität und Religion hinaus.
Die Barmherzigkeit ist friedenstiftend und heilt die Welt. Es gilt auch im Kleinen. Wenn ich selbst Barmherzigkeit erfahre, dann spüre ich, dass mein Leben Sinn hat. Bonhoeffer hat diese Art der Sinnerfahrung auf einen Spitzensatz gebracht: „Da wird der Bruder dir zum Christus.“
Im Menschen das Antlitz Gottes suchen - und sei es noch so geschunden - das heißt: Erbarmen.
Verschließen wir die Augen nicht und vor allem resignieren wir nicht vor der wachsenden Armut bei uns und weltweit. Treten wir dazwischen, rütteln wir an den ungerechten Strukturen, geben wir den Ohnmächtigen unsere Stimme.
So eine Art zu leben, kann man schon früh lernen. Wenn wir unseren Kindern beibringen, dass auch der Käfer auf dem Weg nicht zertreten, sondern beschützt werden muß, dann ist das ein erster Schritt in die Richtung der Barmherzigkeit, in die Richtung eines sinnvollen Lebens.
Wir übernehmen uns nicht, wenn wir auf Christus unser Vertrauen setzen. Christus identifiziert sich mit dem geringsten Bruder. So wert geachtet bin ich. Mein Leben wird von Gott ernst genommen und damit gewürdigt.
Rainer Schling