„Sprich mich frei von Schuld, die mir nicht bewusst ist!“
Psalm 19, 13
Psychologen hätten am Monatsspruch für Oktober ihre Freude. Wer bemerkt seine eigenen Fehler? Was ist nicht alles in unserem sogenannten Unbewußten verborgen?
Bewußt, offen zu Tage liegt die Schuld der anderen, der Politiker, derGesellschaft oder der Umstände.
Wenn es um Fehler anderer geht, werden wir aufmerksam, schauen genau hin, werden gesprächig. Wenn es um eigene Fehler geht, dann scheinen wir sie kaum zu kennen. Jesus kannte dieses menschliche Phänomen. In der Bergpredigt (Matthäus 7, 4-5) hinterfragt er unser Verhalten:
„Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen?, und siehe, ein Balken ist in deinem Auge. Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.“
Wie bekommen wir also den Balken aus unserem Auge, wenn wir ihn noch nicht einmal zu bemerken scheinen? Gegenseitige Hilfe tut Not.
Wenn ich etwas falsch gemacht habe und das auch sofort erkenne, sage ich zum anderen: „Entschuldigung!“ oder „Es war ein Versehen, nicht so gemeint!“ Ich gehe dann aber schnell zur Tagesordnung über. Doch so einfach ist es nicht. Ich kann mich doch nicht selbst freisprechen. „Ich bitte dich um Entschuldigung - weil ich gemerkt habe, dass ich dieses oder jenes falsch gemacht habe.“ Wenn wirklich alles auf den Tisch kommt, wie man so sagt, kann mich das Gegenüber mich freisprechen, entlasten. Darum kann ich nur bitten, nicht fordern oder es einfach voraussetzen, denn diese Bitte kann mir auch versagt werden.
Entstandener Schaden, wenn ich jemanden verletzt oder enttäuscht habe, wird nicht einfach gut, weil ich sage: „Entschuldige!“, sondern weil der andere sagt: „Ich verzeihe dir.“
Und Gott sollen wir bitten: „Sprich mich frei von Schuld, die mir nicht bewusst ist!“ Geht das überhaupt? Wie kann Gott mir etwas vergeben, was mir nicht bewusst ist? Merke ich das überhaupt? Wenn ja, woran?
Wenn ich aber weiß, dass ich sehr viel in meinem Leben verdränge, kann ich die Gebetsbitte auch so verstehen:
„Sprich mich frei von der unbewussten Schuld, damit sie nicht unbemerkt mein Verhalten steuert oder meinen Körper krank macht.“
Jörg Zink hat den tröstlichen Satz geprägt: „Vergebene Schuld macht reiner als bewahrte Unschuld.“ Das ist vielleicht auch deshalb so, weil ein Mensch bewahrte Unschuld wohl nur mit einem hohen Maß an Verdrängung erkaufen kann. Wer aber um Vergebung bittet, tut das, weil er glaubt, dass es jemanden gibt, der mit der Schuld zurechtkommt. Wenn ich also glaube, dass Gott auch Schuld vergibt, die mir nicht bewusst ist, kann ich eher wagen, mir Schuld bewusst zu machen. Auch solche Schuld, die ich nicht einfach ändern kann, z.B. wie sie zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Eheleuten manchmal entsteht. Vergebungsbewusstsein hilft, eigene Fehler zu bemerken und zuzugeben. Und es führt tiefer in die Gottesbeziehung hinein. Es könnte sich in Folge dieses Monatsspruchs ein heilsamer Zirkel von mehr Vergebung und mehr Vertrauen ergeben.
Wenn Christen zusammenkommen, im Gottesdienst, bei einer Trauung oder bei einer Beerdigung, wird am Ende das Vater Unser gebetet. Wie oft haben wir es nicht schon gesprochen: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“?
Je ernster wir diese Bitte nehmen, umso besser gelingt uns unser Miteinander in der Gemeinde und auch sonst. Es gibt reichlich Grund den Monatspruch für Oktober nicht so schnell zu vergessen.
Rainer Schling