„Chase the night away“
Wie schnell ändert sich die Welt! Mittlerweile liegen zwei Jahre Pandemie hinter uns. Wer hätte im Frühjahr 2020 gedacht, dass wir so lange im Ausnahmezustand leben werden? Auch wenn wir irgendwie gelernt haben, mit Corona zu leben. Die Lage bleibt – trotz Impf- und Boostermöglichkeiten – weiter angespannt. Weiterhin sind Ängste um die eigene und die Gesundheit anderer zu spüren, aber auch Befürchtungen um das schlichte wirtschaftliche Überleben.
Im Rückblick auf die vergangenen zwei Jahre muss ich an ein Lied denken, das mich zu Beginn der Pandemie angesprochen hat. Es stammt von der britischen Band Keane, einer meiner musikalischen Lieblingsgruppen, und trägt den Titel „Chase the night away“. Im entsprechenden Refrain heißt es: „You can chase the night away. […] You heal me like the light of day.“ („Du kannst die Nacht vertreiben. […] Du heilst mich wie Tageslicht.“) Wen die Musikgruppe mit diesem „Du“ identifiziert, ist nicht eindeutig klar. Vielleicht sind es der Partner bzw. die Partnerin, Freunde, Eltern, Geschwister oder die eignen Kinder. Die Deutung des „Du“ bleibt letztlich den Hörern überlassen. Doch der im Lied angesprochene Gedanke, dass es ein „Du“ gibt, das in der Lage ist, die Nacht in Tag bzw. Dunkelheit in Licht zu verwandeln, ist mir sofort in Erinnerung gekommen, als ich den Wochenspruch für jene Woche gelesen habe, in der der Monat Februar beginnt:
„Über dir geht auf der HERR, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.“ (Jesaja 60,2)
Diese Worte aus dem Jesajabuch sprechen – ähnlich wie die Liedzeilen von Keane – in die Situation einer „Nachterfahrung“. Nacht, ja bitterste Nacht war es nämlich für das Volk Israel, als es vor mehr als 2500 Jahren im babylonischen Exil war. Weit weg von der Heimat, unterjocht von einer fremden Weltmacht. Überhaupt lag die Heimat in Trümmern: Jerusalem und der Tempel waren zerstört. Die Lage im Exil erschien ausweglos. In diese Situation hinein wird ein Nachfolger des Propheten Jesaja von einem göttlichen Wort inspiriert. Einem Wort, das an das gefangene Volk gerichtet ist und eine Perspektive der Hoffnung bereithält:
„Über dir geht auf der HERR, und seine Herrlichkeit erscheint über dir.“
Die Nacht des Exils ist vorbei, die Zeit der Unterdrückung ist zu Ende. Gott vertreibt die Dunkelheit der Nacht und lässt einen neuen lichten Tag seiner Herrlichkeit anbrechen.
Diese Erfahrung aus dem Prophetenbuch gilt primär dem Volk Israel. Mit Blick auf Jesus Christus haben wir Christen aber eine ähnliche Erfahrung gemacht, die wir insbesondere in der anstehenden Passionszeit, die aufs Osterfest zuläuft, bedenken: Im Leidensweg Jesu Christi hat Gott selbst Schmerz, Tod und Dunkelheit durchlitten. Doch in Jesu Auferweckung hat Gott dies zugleich überwunden. Aus Tod wird Leben, aus Dunkelheit wird Licht, aus Nacht wird Tag.
Unter dem Zeichen dieser Bewegung von der Dunkelheit ins Licht stehen auch wir Christinnen und Christen in der Nachfolge Jesu. Nicht nur in schönen, sondern insbesondere auch in schwierigen und unsicheren Zeiten. Corona wird uns womöglich noch länger beschäftigen. Es wird weiterhin unterschiedliche Auswirkungen auf das öffentliche und private Leben haben. Und es wird leider auch weiterhin Leid hervorrufen.
Die biblischen Erfahrungen verkünden nicht, dass alles „Friede-Freude-Eierkuchen“ sein wird und dass keine Krisen mehr durchlebt werden müssten. Aber sie sprechen uns zu, dass Gottes Geschichte weitergeht: In Zeiten der bittersten Nacht besteht Hoffnung auf neues Leben im Licht – oder in Anlehnung an Keane gesprochen: „Du, Gott, kannst die Nacht vertreiben!“
Mit herzlichen Grüßen und Segenswünschen für die kommenden Monate,
Ihr Pfarrer Dr. Gregor Bloch
im Januar 2022