„Gott spricht:
Ich habe dich je und je geliebt,
darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte“
Vor einigen Jahren verstarb der Bruder, gerade 18 jährig, einer guten Freundin. Er war mit dem Motorrad einfach aus der Kurve getragen worden. Die Familie gehörte einer Freikirche an, war sehr gläubig und was auffiel: sie praktizierte ihren Glauben in Wort und Tat und war mir in der langen Zeit meines Studiums immer religiöses Vorbild gewesen.
Über der Traueranzeige stand jener Vers des Propheten Jeremia:
„Gott spricht: Ich habe dich je und je geliebt, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte“ (31,1).
Meine erste Reaktion auf diese Karte war Unverständnis und Entsetzen. Vielmehr, ich war schockiert. Schlimm genug der Tod eines noch so jungen Menschen, der eigentlich ganz am Anfang seines Lebens stand, der so viele Pläne hatte und mit soviel Optimismus und Zielstrebigkeit allen anderen Jugendlichen seines Alters weit voraus war. Viel schlimmer aber empfand ich, mit Jeremia, diesen Tod als Akt der Güte Gottes zu bezeichnen. Wenn mich dieser Tod immer wieder vor die Frage stellte: „Warum? Warum gerade er? Wie konnte diese Familie, die doch noch viel, viel intensiver um ihren Sohn trauerte, als ich, wie konnte diese Familie, ohne mit Gott zu hadern, seine Entscheidung ohne jedes Wenn und Aber akzeptieren?“ Tod und Güte, Tod und Gnade bekam ich in dieser Situation nicht zusammen.
Der Pfarrer, der die Beerdigungsansprache hielt, gab mir auf meine ungeklärten Fragen scheinbar eine Antwort, eine schreckliche Antwort: „Menschen, die Gott so sehr liebt, weil sie untadelig seinen Willen tun, ihnen gewährt er früher als anderen die Gnade, ganz in seiner Nähe zu leben!“ Hieß das umgekehrt, dass Menschen die lange leben, vor Gott nicht bestehen können, hieß das, dass es Menschen gibt, die von Gott mehr geliebt werden, als andere? „Ich habe dich je und je geliebt“, hieß das, dass es Menschen gibt, die von Anbeginn ihres Lebens von Gott erwählt sind und andere, egal, was sie anstellen, mit Gottes Gnade nicht zu rechnen haben?
Hatte mich bisher nur das Wort des Propheten Jeremia irritiert, so war innerhalb einer halben Stunde mein ganzes Gottesbild ins Wanken geraten. Und bis mir dieses Wort erneut als Predigttext begegnete, hatte ich es mit Befremden erfolgreich verdrängt.
Je länger ich mich, gezwungenermaßen, mit dem Text beschäftigte, umso mehr fiel es mir gleichsam „wie Schuppen von den Augen“. Liest man den einen Vers im Zusammenhang der Geschichte Gottes mit seinem Volk Israel, so ist es nichts anderes als eine große Liebeserklärung. Israel ist gerade nicht ein Volk ohne Fehl und Tadel, im Gegenteil. Es hat nicht nach Gottes Wort gelebt und wurde von Nebukadnezar, dem babylonischen König, in die Gefangenschaft geführt. Aber das Elend Israels ist nicht Gottes letztes Wort. Sein erstes und letztes Wort ist die Liebe. Gott wird Israel heimführen, das ist es, was Jeremia den Gefangenen mitteilt. „Ich habe dich je und je geliebt“, spricht Gott! Diese Worte heißen nicht, wie ich es damals verstanden habe, dass Gott nur den Menschen liebt, der stets bemüht ist, seinen Willen zu tun. Vielmehr spricht Gott uns zu: „Mensch, ich weiß um alle deine Verfehlungen und trotzdem steht über allem meine Liebe zu dir.“ Im Nachhinein hat mich diese Erkenntnis mit dem Tod dieses Menschen versöhnt, habe ich erkannt, welche Gewissheit die Familie sich selbst und den anderen Trauernden durch diesen Vers mitgeben wollte: Gott spricht: „Von Ewigkeit her liebe ich dich, ich habe dich errettet, durch Jesus Christus. Nur aus Liebe, nichts sonst! Und egal, wie lange du auf Erden gelebt hast, dein Leben ist in meiner Liebe geborgen, heute, morgen und in Ewigkeit!“ „Aus lauter Güte habe ich dich zu mir gezogen“, diese Gewissheit lässt auch den fragwürdigsten Tod erträglicher werden, wissen wir um Gottes Beweggrund: „Von Ewigkeit her liebe ich dich, ich habe dich errettet durch Jesus Christus. Nur aus Liebe, nichts sonst.“
Ich wünsche uns, dass wir diese Liebeserklärung Gottes annehmen können.