Gebet
Gott, manchmal sind wir so traurig, dass alles dunkel aussieht,
wir möchten noch Hoffnung behalten.
Wir möchten spüren, dass du uns nicht allein lässt.
Komm du zu uns und lass uns tapfer und getrost sein.
Amen
Liebe Leserinnen und Leser, wer in diesen Tagen spazieren geht, sieht mit Bedauern wie die Bäume kahl werden oder schon sind. Sogar die letzten Rosen sind verschwunden. Doch mitten im tristen Grau ein kleiner Schimmer: eine kleine weiße Blüte. Natürlich erkennen Sie sie: ein Gänseblümchen mitten im Herbst, im November.
Ganz klein ist sie, sie erhebt sich kaum über den Boden. Und streckt sich doch dem Licht entgegen. Wer genauer schaut, entdeckt noch mehr. Manche allein, manche in Gruppen über die ganze Wiese verteilt. Eigentlich Frühlings- und Sommerblumen. – wussten Sie, dass es die auch im November geben kann?
Gott sei Dank gibt es sie auch in der dunklen Jahreszeit, wenn die bunten Herbstbäume graubraun werden und der Nebel, der über Garten, Straße, Wald und Haus liegt, uns den Blick zum Himmel verhindert. Viele mögen diese Jahreszeit nicht. Sie hat zu viel mit Abschiednehmen und Gedenken zu tun. Abschiednehmen fällt vielen schwer. Etwas oder jemand zurücklassen. Von etwas oder von jemandem zurückgelassen zu werden. Gerade in der dunklen Jahreszeit ist uns das Vertraute lieber als das Neue. Endgültige Veränderungen bewegen uns, jeder Abschied, jede Trennung scheint unsere Sicherheiten zu lockern.
Wie sehr brauchen wir da die kleinen Freuden, die kleinen Lichtblicke. Unsere Erinnerungen, die uns zur Verfügung stehen wie eine Lebensschatzkiste, sie zu öffnen, nachzuleben, nachzufühlen was wichtig war in der Vergangenheit. So wie die Gänseblümchen im Spätherbst ein Stück vom Sommer festhalten. Sie halten nicht den ganzen Sommer fest, sie ersetzen nicht die großen, prächtigen Blumen des Gartens. Aber sie zeigen, dass nicht alles verschwindet, wenn der Sommer geht. So wie die Erinnerungen nicht das ganze Leben festhalten, aber sie zeigen uns, was in unserem Leben groß und schön war. Und die Gänseblümchen können noch mehr, sie deuten an, was noch kommt. Sie erzählen schon vom kommenden Frühling. In jedem Jahr, das vergeht, ist schon der Keim des neuen Jahres angelegt. Wir Menschen erleben Vergänglichkeit. Aber die Liebe, die wir gelebt haben, wird fortwirken.
Noch ist das Bleibende und Schöne nur wie ein kleines Gänseblümchen in einer wintermüden Wiese. Wir müssen es manchmal durch unsere Müdigkeit hindurch mühsam festhalten. Manchmal haben wir Sorge, dass alles verschwindet in einem dunklen, einsamen Vergessen. Aber bei Gott wird nichts vergessen. Bei ihm finden wir alles wieder, was unser Leben war und was unser Leben sein kann. Bei ihm wird aus unserer »gänseblümchenkleinen« Hoffnung eine »tulpenwiesenbunte« Freude. Bei ihm wird aus unserem wintermüden Glauben eine sommerfröhliche Herrlichkeit.
Gottes Ewigkeit ist viel größer und schöner, als wir es uns mit aller Fantasie vorstellen können. Diese Hoffnung bleibt uns auch in der dunklen Jahreszeit.
Annette Schulz, Pfarrerin
November 2016